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1945
Der Krieg scheint seinen Höhepunkt erreicht zu haben, so schreibt Lehrer Franz Schmitt in der von ihm vorbildlich geführten Schulchronik. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, muß wohl feststellen, daß der Krieg für das deutsche Volk verloren ist. Im Osten steht der Russe an der Oder und hat unsere wichtigsten Überschußgebiete in Besitz, im Westen haben unsere Feinde nicht nur den Westwall, sondern auch den Rhein überschritten. Der Kanonendonner wird täglich hörbarer, die Einflüge feindlicher Flieger zahlreicher, der Verkehr gerät immer mehr ins Stocken. Man fürchtet sich, mit der Bahn zu fahren oder die Felder zu bestellen. Überall surren die Jagdflieger herum und suchen ihre Opfer. Immer näher rückt die Front. In der Woche vor Palmsonntag kommen die ersten Flüchtlingsströme durch unser stilles Dorf. Täglich werden hunderte von ausländischen Arbeitern hier durchgeschleust; sie kommen aus den Industriegebieten um Rhein und Ruhr, wo sie in Fabriken oder in der Landwirtschaft tätig waren. In den ersten Tagen der Karwoche steigert sich der Strom der Flüchtlinge von Stunde zu Stunde. Die Landstraße wird zur Heerstraße. Versprengte und abgekämpfte Truppen, Fahrzeuge aller Art fluten dahin. Man ahnt, daß sich die Front, wenn überhaupt noch eine besteht, in der Auflösung befindet. Mittwochnachmittag werden alle männlichen Arbeitskräfte aus dem Dorfe aufgeboten, unterhalb des Büraberges, dort, wo die Eder nahe an den Berg herantritt, Panzersperren anzulegen. Dort haben bereits Soldaten der Fritzlarer Garnison Deckungslöcher gegraben, der Einsatz der Ungedankener ist vorerst nicht nötig. In derselben Nacht noch müssen Holzhauer aus Rothhelmshausen die Hainbuchen an der Rothhelmshäuser Straße fällen und zwar so, daß sie als Sperre quer über die Straße zu liegen kommen. Der Gründonnerstag verläuft ruhig. Kanonendonner aus dem Waldeckischen klingt an das Ohr der erregten Bewohner. Abends suchen versprengte Soldatentrupps Quartier im Dorf, sie verlassen aber den Ort wieder, als die Nachricht durchsickert, daß amerikanische Panzer von Frankenberg nach Bad Wildungen im Anrollen seien.
Heute ist Karfreitag. Der sonst so stille, zur Einkehr mahnende Tag findet unser Dorf in voller Aufregung. Überall ist man dabei, Lebensmittel und Wertsachen zu vergraben. Der Feind steht vor der Tür! Die tollsten Gerüchte durchschwirren unseren Ort. Man weiß, daß die Fritzlarer Artillerie, verstärkt durch abgefangene Infanterie Widerstand leisten wird. Man fürchtet einen Angriff der Bomber, durch den auch Ungedanken in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Im Walde erhofft man Sicherheit. Schon stehen die mit der notwendigsten Habe gepackten Wagen fahrbereit, da kommt die Nachricht, daß Wega und Mandern weiße Fahnen gehißt hätten. Da man die Panzer rollen hört, beeilt man sich, auch in Ungedanken weiße Tücher zum Zeichen der Übergabe zu hissen. Bald wehen diese Tücher vom Kirchturm und von fast allen Häusern. Schon fahren die ersten amerikanischen Panzer von Mandern her in die Bahnhofstraße ein. Bei Freidhofs wird noch schnell ein verwundeter Soldat verbunden. Unter den Amerikanern sind Polen, die sich mit den hier befindlichen gefangenen Polen schnell verständigen. Diese sprechen gut für unsere Gemeinde, da sie sich hier jahrelang gut aufgehoben befanden. Nach Einvernahme des am Totenweg oberhalb des Dorfes aufgestellten Maschinengewehrs und nach Beseitigung der Baumsperre am Rothhelmshäuser Weg, ziehen die amerikanischen Soldaten weiter in Richtung Fritzlar, kehren aber bald wieder um und verlassen unseren Ort. Inzwischen ist im Edertal oberhalb und unterhalb von Ungedanken der Kampf entbrannt. In Fritzlar wird gegen Mittag die steinerne Brücke über die Eder gesprengt, bei Wellen ist ein Gefecht im Gange. Dort sollen hinter dem Dorfe deutsche Soldaten zwei Geschütze in Stellung gebracht haben, im Dorfe selbst aber einige SS-Männer mit Panzerfäusten Widerstand leisten. Auch über Ungedanken fliegen Granaten der Hardt zu, vom Hellen bestreichen zwei Geschütze der Fritzlarer Artillerie die Landstraße. Von der Straße drunten am Bahnhof schießt ein amerikanisches Maschinengewehr auf ein Pferdefuhrwerk an der Hardt. Wahrscheinlich vermutet man Munitionsnachschub. Der Wagen überschlägt sich und stürzt die Böschung herab, doch kurz danach rennen die Pferde in wildem Galopp davon, während der Wagen liegen bleibt. Wo sich in der Hardt nur etwas regt, dahin schießen die MG's. Am wolkenlosen Himmel kreisen fortgesetzt langsam fliegende Aufklärungsflugzeuge. Da die Wälder noch unbelaubt sind, entgeht ihnen nichts und die Ungedankener freuen sich, daß sie nicht in den Wald geflüchtet sind. Wellen brennt an mehreren Stellen, der Brandgeruch zieht bis nach Ungedanken. Von der Steere und von höher gelegenen Häusern aus kann man dem Kampfe zuschauen. Schaurig heben sich am Abend die brennenden Gehöfte aus dem mit Rauch gefüllten Dorfe ab, man fürchtet, es werde ganz abbrennen, doch sind es, wie man hinterher erfährt, 12 Gehöfte und 17 Scheunen, die dem Brande zum Opfer gefallen sind. Leider sind bei der Beschießung zwei Männer umgekommen. Der Geschützdonner im oberen Edertal hat aufgehört Um Fritzlar aber wird weiter gekämpft. Nur wenige Dorfbewohner gehen heute zu Bett, denn man rechnet mit einem Bombenangriff auf die nahe Domstadt, die der Kommandant bis zum äußersten verteidigen will. Jeder versetzt sich teilnahmsvoll in die Lage der Kreisstadtbewohner. In Ungedanken aber ist man wieder einmal ohne Licht da bei der Schießerei die Lichtleitung an mehreren Stellen beschädigt worden ist. Auch die Telefon- und Telegrafenleitung ist unterbrochen: Ungedanken ist von der Außenwelt abgeschnitten.
Um und in Fritzlar wird am Karsamstag weiter gekämpft. Unausgesetzt rollen amerikanische Panzer und Panzerspähwagen, sowie gepanzerte Schützenwagen die Landstraße aufwärts über Mandern, Wega, Wellen nach Züschen zu, um Fritzlar zu umgehen. In der Domstadt brennt es an verschiedenen Stellen, das Feuer wird aber immer wieder durch den Einsatz mutiger Bürger gelöscht. Nachmittags entwickeln sich neue Brände, die sich aber nicht ausdehnen. Nachdem die kämpfende Truppe sich nach Werkel zurückgezogen hatte, dieses Dorf aber durch einen Bombenangriff und durch Artilleriefeuer größtenteils in Flammen aufgegangen war, besetzten die Amerikaner am ersten Ostertage die Kreisstadt. Am Karsamstagabend erhielt aber Ungedanken seine erste Einquartierung. Für eine 700 Mann starke Nachrichtentruppe mußten innerhalb einer Stunde eine ganze Anzahl Häuser geräumt werden. Da ein Drittel des Dorfes mit Evakuierten, etwa 120 Menschen, belegt war, wurde es nicht leicht, die vielen Soldaten unterzubringen, denn auch die aus ihren Häusern gewiesenen Einwohner mußten ein Unterkommen finden. Die Amerikaner zogen jedoch schon am nächsten Morgen weiter. Am zweiten Ostertag gibt es erneut Einquartierung, wiederum muß geräumt werden Am Abend des Donnerstag nach Ostern zieht die Nachschubtruppe wieder ab. In den von ihnen belegten Häusern waren alle Schränke, Truhen, Koffer und sonstige Behälter durchsucht, ein größerer Schaden entstand jedoch nicht. Mit dem Weitermarsch der amerikanischen Truppen ist aber die Ruhe in unserem Dorfe noch nicht eingekehrt. Das Motorengeheul der Flugzeuge, das Rattern der Kampf- und Lastwagen, die alle der sich nach Osten verschobenen Front zustreben, reißt tagelang nicht ab.
Die Amerikaner haben eine Militärregierung mit dem Sitz in Fritzlar eingerichtet. Jeglicher Behördenverkehr stockt, die Betriebe arbeiten nicht. Von sechs Uhr abends bis sieben Uhr morgens darf niemand das Haus verlassen, am Tage darf man sich nur zwei Kilometer außerhalb des Orts bewegen. Wer zum Arzt nach Fritzlar muß, bedarf einer besonderen Genehmigung. Ernst lastet auf allen Verantwortlichen die Ernährungsfrage, ist doch mit einer starken Verknappung der Lebensmittel zu rechnen. In den ersten Wochen müssen die hiesigen Bauern die Normalverbraucher mit Brot versorgen, desgleichen mit Milch, Butter und Eiern; zwei geschlachtete Schweine liefern das nötige Fleisch. In der zweiten Woche nach der Besetzung wird an die Einwohner Mehl verteilt. Damit hat jeder Haushalt die Möglichkeit, sein Brot im Gemeindebackhaus selbst zu backen. Erst allmählich kommt wieder die gewohnte Ordnung in unsre Gemeinde, nachdem auch die Kreisverwaltung wieder zu arbeiten beginnt Noch lange hat man aber mit den Nachwehen des Krieges, der am 8. Mai durch die bedingungslose Kapitulation ein vorläufiges Ende findet, zu kämpfen und die wirtschaftliche Not, die überall drohend ihr Haupt erhebt, ist noch lange nicht behoben. Im Edertal hat die Truppe überall im Gelände Munition, Panzerfäuste, Minen und Handgranaten zurückgelassen. Durch unvorsichtiges Handtieren mit einer Handgranate mußte der 45jährige Franz Bubenhagen sein Leben lassen und gefährdete das seines Vaters schwer. Ahnliche Unglücksfälle ereigneten sich auch in Bad Wildungen und Fritzlar. Noch immer, so heißt es in der Schulchronik, ist Ruhe des Bürgers erste Pflicht. Am 13. April erhielten wir wieder elektrischen Strom und damit Licht und den Gebrauch des Radios und sind doch wieder zum Teil mit der Welt verbunden. Die Schulen haben Dauerferien. Aller Verkehr stockt noch im Mai, Bahn und Post haben den Betrieb noch nicht aufgenommen. Sechs Kilometer dürfen wir uns vom Wohnort entfernen und zwar von früh 6 Uhr bis abends 8 Uhr, aber einen Ausweis muß man stets bei sich führen.
Die Katholiken der Stiftsdörfer Ungedanken und Rothhelmshausen, sowie die aus der Dom Stadt freuen sich allgemein auf die Prozession zum Büraberg (am Bittsonntag), die nach sechsjähriger Unterbrechung von der amerikanischen Kommandantur in Fritzlar wieder erlaubt wurde. Sie durfte seit 1939, angeblich wegen Schuhverschleißes, nicht mehr gehalten werden. Da am Bittsonntag ungünstiges Wetter war, wurde sie auf Christi Himmelfahrt verlegt. Bei schönstem Maiwetter zogen die Pfarrkinder früh am Morgen unter Glockengeläut und feierlichem Gesang, mit wehenden Fahnen und Standarten durch die stille Flur der historischen Stätte zu. Dort oben auf dem Berge wollte man sich im feierlichen Dankgottesdienst mit den Fritzlarer Gläubigen vereinen. Man wartete jedoch auf die Domstädter vergebens. Gegen 9.30 Uhr kam ein Bote und meldete, daß die Fritzlarer Prozession, die schon unterwegs gewesen sei, auf Befehl des amerikanischen Kommandanten hätte umkehren müssen, da in der Stadt der Belagerungszustand ausgesprochen worden sei. Einem Gerücht nach sei auf amerikanische Posten geschossen worden. Noch in derselben Nacht wurden über 100 Männer in Fritzlar verhaftet, am anderen Morgen mußten aber alle männlichen Einwohner zwischen 16 und 65 Jahren in der Allee antreten, wo sie anschließend in der Kommandantur einem strengen Verhör unterworfen wurden. Endlich wurde der Schuldige gefunden, es war ein 11 jähriger Junge, dem die ganze Bürgerschaft so viel Arger und Aufregung zu verdanken hatte. Am Sonnabendmorgen wurde der Belagerungszustand wieder aufgehoben. Im Juni hat die Rückwanderung in die Heimat allgemein eingesetzt, nachdem die amerikanischen Verbote sich erheblich gelockert hatten. Zu Fuß, per Rad und mit dem Wagen sieht man sie an unserem Dorf vorbeiziehen. Die Dorfbewohner, die noch nicht in Arbeit stehen, helfen in der Landwirtschaft, die Kinder sammeln Heilkräuter und Heidelbeeren, denn die Schulen sind noch immer geschlossen. Mitte Juni verkehrt auch auf unserer Bahnstrecke wieder ein Zugpaar, morgens und abends. Auch das Reisen innerhalb Hessens ist wieder erlaubt. Von den Söhnen unseres Heimatdorfes, die im Felde standen, sind inzwischen 18 glücklich heimgekehrt. Die meisten Soldaten befinden sich aber noch in Kriegsgefangenschaft.
Mit Genehmigung der Militärregierung konnte mit dem Schulunterricht am 1. Oktober wieder begonnen werden. Die Schule mußte aber schon vier Wochen später wieder geschlossen werden, da die Amerikaner herausgekriegt hatten, daß der Lehrer Mitglied der NSDAP gewesen war. Die Kinder waren bei dieser Maßnahme die Leidtragenden, denn bis zum 1. Juli 1946 konnten sie keine Schule mehr besuchen. Obwohl Lehrer Schmitt durch die Spruchkammer in Fritzlar rehabilitiert worden war, und ihm durch den Schulrat die Genehmigung zum Schulunterricht ab 12. August wieder erteilt worden war, wurde ihm am 6. März 1947 die Unterrichtsgenehmigung bis auf weiteres entzogen. Für Lehrer Schmitt übernahm Lehrerin Helene Kobilka, die aus der Tschechoslowakei ausgewiesen war, vertretungsweise den Unterricht, bis der altverdiente Lehrer wieder endgültig die Schulleiterstelle übernahm. Am 28. Dezember 1945 tobte über Ungedanken und dem Edertal ein heftiger Sturm. Gegen 19.30 Uhr spaltete der Sturm die 1878 gepflanzte Schullinde und warf den Hauptast auf die Straße.

 

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